Eine solche Mehrdeutigkeit kann Spaß machen. Sie kann die Verständigung aber auch erschweren. Dieses Vorwurfs möchte ich mich im nun nur ungern schuldig machen, wenn es darum geht, einen recht „großen“ Begriff zu beschreiben: Das Normative.

Dieses Wort bietet ebenfalls recht viel Deutungsspielraum, den wir einschränken. So geht es weder um eine definierte Norm inkl. Toleranz, noch um eine statistische Normalverteilung oder gar eine rechtliche Norm. Fragen wir die KI, so geht es beim Normativen um Regeln, Standard oder Gesetze, die wir als verpflichten ansehen. Um allgemeingültige Prinzipien also, die es uns ermöglichen, unsere Handlungen als moralisch richtig oder falsch zu identifizieren. Auf diesem Verständnis basieren meine folgenden Gedanken.

Ohne eine moralphilosophische Debatte anstoßen zu wollen bin ich der Auffassung, dass die meisten von uns sehr gut zwischen richtigem und falschem Verhalten unterscheiden können. Das Richtige zu tun ist nur nicht immer ganz so einfach. Jemanden um des eigenen Vorteils willen hinterrücks zu benachteiligen ist beispielsweise mit Sicherheit einfacher, als Einbussen oder die Konsequenzen der Wahrheit in Kauf zu nehmen. Und mit Respekt und Klarheit in einen Konflikt zu gehen ist bei weitem anstrengender, als ihn zu vermeiden und zu hoffen, dass sich die Dinge von alleine lösen.

Fraglos leben wir in einer Welt, die mehr als schwarz und weiß kennt. Häufig genug sind wir gezwungen, abzuwiegen und zu entscheiden; mitunter auch zwischen Schlechtem und noch Schlechterem. Wer in der Welt zuhause ist, kommt deshalb gar nicht umhin, sich zu fragen, welche Werte für ihn einen besonders hohen Stellenwert haben. Finde ich zu lügen schlecht? Ja, klar. Gilt das für eine Notlüge auch? Hängt davon ab. Die Wahrheit mag mir wichtig sein, aber vielleicht habe ich auch einen Anspruch darauf, mein Gegenüber nicht mit schonungsloser Offenheit zu verletzen. Dann wird Wahrheit vom absoluten zum relativen Wert. Das ist okay – solange ich mir dessen bewusst bin.

Somit kann das Normative als Richtschnur oder – besser – Maßstab im moralischen und gesellschaftlichen Sinne verstanden werden. Es geht also um das „Sollen“; um die Werte, für die wir stehen und die uns besonders wichtig sind. Das Normative als richtungsweisendes Element, also.

Glücklicherweise ist es in vielen Fällen relativ klar, was richtig und was falsch ist. Mehr noch, fühlt sich die Nummer positiv an, wenn wir bewusst unserem eigenem Maßstab entsprechen. Es erdet uns wenn wir wissen, wofür wir stehen, wie wir uns in unsicheren Situationen verhalten können und an was wir glauben sollen. Das schafft ebenso Klarheit wie Selbstwirksamkeit.

Wenn das Normative keinen Wert hätte, hätten Wirtschaftstreibende diesen Begriff vermutlich nicht für sich entdeckt. Dann hätten wir uns alle wohl weiter an Themen wie dem Homo Ökonomicus oder der absoluten Profitmaximierung abgearbeitet. Das klingt nicht ganz so sexy wie „Corporate Social Responsability“ und „Environment, Social and Governance“, folgt aber wenigstens einer klaren Logik: Richtig ist, Gewinn bringt.

Leider – oder glücklicherweise? – leben wir auch diesbezüglich mittlerweile in einer komplexeren Welt. Es wird immer wichtiger, was uns langfristig als Gesellschaft und Gemeinschaft gut tut. Natürlich muss ein Unternehmen profitabel arbeiten, denn noch Wirken die Marktgesetze. Wer langfristig überlebensfähig sein und an der Gestaltung dieser Welt teilhaben möchte, muss schlicht über ein wirtschaftlich stabiles Fundament verfügen. Allerdings gewinnen auch andere Ziele in Zeiten der Klimakatastrophe und der zunehmenden Schwächung unserer Demokratien an Wichtigkeit. Bei allem transaktionalen Denken verfügen wir auch im Geschäftsalltag über die Freiheit, Dinge zu tun, weil sie sich richtig anfühlen und wir von ihnen überzeugt sind.

Wie tröstend ist da die Vorstellung, wenn gerade ein gesundes und normativ eingebettetes Verhalten zu stabilen wirtschaftlichen Ergebnissen führt. Dann wird der Wert des Normativen schlagartig fassbar(er). Obwohl vermutlich nur die wenigsten diesen Einfluss auf ihre finanziellen Ergebnissen konkret messen können, scheinen viele Organisationen diesem Gedanken zumindest einen hohen Stellenwert beizumessen.

In der alge electronic tun wir das mit Sicherheit. Nur so ist es zu erklären, dass wir uns diesem Thema in den vergangenen drei Jahren in so erheblichem Maße gewidmet und sehr viel Geld und Zeit in die Ausarbeitung, Erfassung und Umsetzung unserer „Richtschnur“ investiert haben. Spoileralarm: Verstanden haben wir dabei immer noch nicht alles. Manches wirkt ohne unser Zutun, und wir sind immer noch Rookies in der Auseinandersetzung mit dem Normativen, schlicht, weil uns immer noch (zu) viele Fehler unterlaufen.

Allerdings kristallisieren sich für uns fünf Kernthemen heraus, die uns als Grundlage dazu dienen, warum das Normative einen so hohen Wert hat. Diese entspringen sicherlich dem Zeitgeist. Allerdings nicht ausschließlich.

Behauptung 1: Uns gehen die Narrative aus

Unser Lebensstandard in Mitteleuropa ist hoch, in den deutschsprachigen Ländern mit am Höchsten. Auch wenn Menschen in Österreich, Deutschland und der Schweiz immer noch in effektiver Armut leben und die relative Armut u.a. aufgrund der Errosion des Mittelstandes zunimmt, leben wir in einem im Grunde verrückten Übermaß an Besitz. Es mangelt uns an Wenigem. Wir befinden uns am Plafond. Wo soll es also noch hingehen, was können wir noch erreichen?

Ich wage zu behaupten, dass uns diese beiden Fragen sehr viel weniger beschäftigen als der drohende Verlust all dessen, was hauptsächlich unsere Vorgängergenerationen erarbeitet haben.

Wir haben zwar gelernt, gegen Dinge zu sein (Gewalt, Diskrimination, Klimawandel, usw.), wissen aber nicht, wofür wir eigentlich stehen wollen. Vielleicht, weil die Angst vor dem Misserfolg größer ist als die Lust auf Erfolg? Etwas zu verhindern sorgt nicht gerade für eine Freisetzung der Schaffenskräfte. Es erzeugt weder Motivation noch Energie.

Stattdessen würde mich zu der überspitzten Formulierung hinreißen lassen, dass wir im post-religiösen Zeitalter wieder an etwas glauben möchten. Dummerweise sind wir gerade etwas knapp an Narrativen.

Hier gilt das selbe wie für das eigene Glück: Selbermachen ist angesagt. Wir sind gefordert, neue Narrative zu erschaffen, unsere Zukunft und uns selbst als Gesellschaft neu zu denken. Wir müssen wieder etwas schaffen wollen, das eben nicht mehr zählbar ist, sondern nur erlebbar. Wir müssen wieder normativ zu denken beginnen statt rein nutzenbasiert.

Behauptung 2: Wir suchen Identität – leider an den falschen Orten

Ich bin ein politischer Mensch, weshalb ich mich zwangsläufig und wiederkehrend mit der österreichischen Parteienlandschaft auseinandersetze. Nach vielen, teilweise mühsamen Jahren der aktiven Verfolgung österreichischer Berichterstattung kann ich heute behaupten, dass ich vier der fünf im österreichischen Nationalrat vertretenen Parteien mit mehr oder weniger großen Bauchschmerzen wählen kann. Es gibt nur eine Partei, die ich als humanistisch erzogener, wissenschaftsaffiner und selbstverantwortlicher Mensch niemals wählen werde. Leider ist es genau diese Partei, die in Zeiten multipler, globaler Krisen den stärksten Zulauf verzeichnet. Nicht trotz ihrer spaltenden und menschenfeindlichen Rhetorik – sondern gerade deshalb. Dabei macht sie sich als parlamentarischer Arm der neuen Rechten offen zunutze, dass sich viele Menschen auf der Suche nach einer Identität nationaler Natur zu befinden scheinen. Sie bietet Zugehörigkeit durch Abgrenzung und verweigert sich jeglichen Dialoges.

Das ist braucht unsere Gesellschaft etwa ähnlich so dringend wie Förderungen für Brennholzverleiher.

Doch nicht nur rechts-, sondern auch linksaußen haben wir ganz offensichtlich den Sinn für das Ganze verloren. Nach Francis Fukuyama ist es gefährlich, den Fokus der medialen Auseinandersetzung auf immer kleinere und neue Gruppen der Gesellschaft zu legen. Es ist nur richtig, die Achtung der Würde des Menschen für alle Menschen zu fordern; dafür ist es notwendig, Teile der Gesellschaft (sprachlich) sichtbar zu machen und dafür zu sorgen, dass Sprache nicht diskriminiert. Eine aus dem Gleichgewicht und der Proportion geratene Diskussion führt jedoch zwangsläufig zur gesellschaftlichen Atomisierung. Auch diese Gräben sind nur mehr schwer zuzuschütten.

Letztenendes haben wir vielleicht schlicht das Gefühl dafür verloren, wer wir sind. Das Normative ist dazu imstande, genau dieses Defizit aufzuheben: Sofern es im Rahmen einer auf humanistischen Grundzügen basierenden Organisation ausgelegt wird, stärkt es eine Gemeinschaft, ohne Außenstehende zu schwächen. Es kommt ohne Feinbild aus und bietet dem Menschen gerade dadurch die Möglichkeit, sich bar jeglicher Empörung gut mit sich selbst zu fühlen.

Letztlich schafft das Normative Identität.

Behauptung 3: Oxytocin und Serotonin – dazugehören ist (fast) alles

Höher, besser, weiter. Zufrieden zu sein war auch schon einmal einfacher. Die meisten von uns leben mit der konkreten Absicht, sich immer weiter zu verbessern, weiter zu wachsen, die Person zu werden, die wir sein könnten. Indianer? Nein, Häuptling!

Das uns das so beschäftigt ist vermutlich eine Konsequenz dessen, dass wir dem ständigen Vergleich nicht mehr ohne Weiteres entrinnen können. Die Welt ist durch ihre digitale Dimension zur ständigen Bühne verkommen, in der der persönliche Wert durch unpersönliche und aufwandslose „Likes“ bemessen wird.

Sind wir als Gesellschaft narzistisstischer geworden? Nach Isolde Charim ist das der Fall und ich bin geneigt, dem zuzustimmen: Da die ständige Intraspektion mittlerweile zu unserem Alltag gehört, ist es schwer, noch eine Brücke zum analogen Umfeld zu schlagen. Gerade der ermüdene Kampf mit unserem Optimalbild lässt uns Haftung verlieren, die wir jetzt vielleicht mehr brauchen, als wir sie in den letzten dreißig Jahren gebraucht haben.

Gerade dieser Gedanke macht die enorme Wirkkraft des Normativen spürbar. Erfüllende Beziehungen mit Menschen, die die Welt so sehen wie wir selbst – das wollen wir doch in Wahrheit! Es sind solche Erfahrungen, die für die Freisetzung des Bindungshormons Oxitocin sorgen, keine Likes und Selfies. Und wer nicht alleine auf der Welt ist, sondern ein soziales Fangnetz sein Eigen nennen darf, wird es auch leichter haben, seinen Serpotoninhaushalt im Griff zu behalten. Dieser wird nämlich ganz maßgeblich davon beeinflusst, wie wir in der Gruppe wahrgenommen werden. Wenn diese Gruppe ein wertschätzendes, an der Würde des Menschen ausgerichtetes normatives Weltbild teilt, merken wir das.

Behauptung 4: Sich betragen? Wir wollen beitragen!

Auch wenn ich viel zu wenig darüber weiß: Systemtheorie scheint mir etwas überaus Interessantes zu sein. Ein Kerngedanke, den mir ein guter Freund kürzlich nahegebracht hat besagt beispielsweise, dass jeder in seinem Leben tut, was er kann. Manche können etwas mehr als andere, und manche folgen leider auch den falschen Zielen. Aber niemand ist absichtlich schlecht. Warum auch? Es ist kaum anzunehmen, dass ein psychisch gesunder Mensch sich gut fühlt, wenn er sich schlecht verhält. Das klingt eher nach Dissonanz und Widerspruch.Nur: Was wollen wir vom Leben?

Vielleicht hat Mihaly Csziszéntmihaly recht wenn er bahauptet, der Sinn des Lebens sei jener, einen Sinn im Leben zu finden. Die meisten von uns wehren sich immerhin dagegen, nur zu existieren oder – schlimmer noch – zu vegetieren. Es soll einen Grund geben, warum wir das unerhörte Glück haben, auf dieser Welt zu sein.

Auch wenn die Auseinandersetzung mit einem Zweck oder „Purpose“ im Wirtschaftsleben durchaus Züge eines säkularisierten Credos angenommen hat und sicherlich nicht als betriebliches Wunderheilmittel gesehen werden darf, erfüllt sein Zweck doch die wichtige Funktion, dem Menschen Selbstwirksamkeit zu verschaffen: Wenn wir zu etwas in unserer direkten Umgebung beitragen, das uns wichtig und richtig erscheint, fühlen wir uns auch in bewegten Zeiten nicht mehr länger ohnmächtig. Das große Ganze können wir vielleicht nicht ändern; aber in unserem unmittelbaren Umfeld können wir für (unsere) Ordnung sorgen.

Normatives Wirken schafft genau das. Wir fühlen uns zuhause in einer Welt, für die wir Autorschaft übernehmen – anstatt nur den Sturzhelm an- und den Kopf einzuziehen.

Behauptung 5: Empörung als Statussymbol

Das Buch „Moralspektakel“ von Philipp Hübl setzt sich eingehend mit der These auseinander, dass wir als Gesellschaft an einer überbordende Moralisierung und – daraus resultierend – einer gewissen Empörungserschöpfung leiden. Moral ist nicht mehr Zweck, sondern Mittel wenn es darum geht, sich selbst in der Auslage zu präsentieren: Der beste, reinste (und selbstgerechteste) unter Vielen zu sein ist zum Statussymbol geworden. Wenn wir dabei moralisch weniger „standhafte“ Menschen auf frischer Tat ertappen setzt ein Überlegenheitsgefühl ein, dass ganz offensichtlich süchtig machen kann.

Verlieren wir also das Gefühl dafür, was richtig und was falsch ist? In Teilen vermutlich schon. Schöner wäre es aber, wenn wir uns bei gewissen Dinge darauf verlassen könnten, dass sie Bestand haben. Zumindest mich irritiert es reichlich, wenn ein Fehltritt erst durch den medialen Shitstorm in dem Maß zum Kapitalverbrechen mutiert, in dem sich fremde Menschen anonym im Internet daran abarbeiten. Sollte ein Fehltritt stattdessen nicht genau das bleiben, was er ist: ein Vergehen, das entweder Vergeltung oder Verzeihen nach sich zieht?

Wir Menschen sind soziale Tiere mit feinsten Sensoren für die in Gruppen herrschenden Macht- und Statusstrukturen. Wenn die dieser Struktur zugrundeliegenden Regeln sich so unvermittelt zu verändern scheinen, werden wir wachsam oder tauchen unter.

Glücklicherweise wirken gerade normative Fundierungen in unserer Gesellschaft als Wellenbrecher für diese äußerst strapaziösen Strömungen. Sie geben Halt durch Verlässlichkeit. Durch sie wissen wir, was richtig und was falsch ist. Wie schön, wenn sich Organisationen da Gedanken über ihr Normatives Wirken machen und eben diese Sicherheit im Kleinen anbieten!

Und jetzt?

Vermutlich bewerten wir den Wert des Normativen im Lichte dieser fünf Behauptungen viel zu positiv. So bleibt beispielsweise unerwähnt, dass Normatives nahbar und einfach verständlich sein muss und dass es als Stückwerk verkümmert, wenn es nicht in eine entsprechende Umsetzung mündet. Und, natürlich, dass diese Umsetzung beizeiten nicht nur ermüdend sein kann – sondern sein wird. Oder wenn unsere normative Einbettung trotz bestem Wissen und Gewissen lau und oberflächlich bleibt. Oder, noch schlimmer, als Fassade und sogar Nebelkerze eingesetzt wird.

Klappt es trotzdem, ist es gut möglich, dass Ernüchterung einsetzt, wenn unsere Umwelt sich nicht zum besseren verändert. Wenn Ernüchterung dann in Enttäuschung und auch Befremden umschlägt, hätte man es dann nicht lieber gleich sein lassen sollen?

Wir sind der festen Überzeugung:

Nein!

Jeder soll und muss an der Gestaltung dieser Welt mitwirken. Das gelingt nur, wenn wir uns darauf verständigen, wie diese Welt beschaffen sein soll. Das Geschäftsleben ist kein Disney-Film, und auch in der alge electronic sehen wir uns nicht als Ponyhof.

Doch der selbstverantwortlich und aufrichtige Mensch wird immer derjenige sein, der eine nachhaltige und gesunde Zukunft für die nach ihm kommenden Generationen schafft. Es wird vieles möglich, wenn wir uns auf ein langfristiges normatives Wirken verständigen und unsere angestrebten Szenarien aller Widerstände zum Trotz heute schon mit wohlwollendem Nachdruck verfolgen.

Der Gedanke, dass eine Überzeugung nicht weniger wird, wenn man sie teilt, sondern im Gegenteil wächst, ist gerade in einer Welt der schwindenden Ressourcen tröstlich.